Uniscripta

Astrid Hennies

RATTEN – TINE oder die Liebe zum Lesen

Sie war mir aufgefallen. Jeden Morgen sah ich sie, unten am Mainufer, immer an der gleichen Stelle kurz vor der Alten Brücke sitzend, mit dieser furchtbar hässlichen grauen Ratte auf ihrer Schulter und einer prallgefüllten Aldi-Tüte neben sich. Klapperdürr und schon zu dieser frühen Stunde die bereits halbleere Flasche Schnaps neben sich, kraulte sie das Tier, selbstvergessen vor sich hinplappernd. Es war immer dieselbe Bank, auf der sie saß und die sie mit einer so eruptionsartig ausbrechenden Schimpfkanonade verteidigte, dass jeder, der es wagte, sich dort hinzusetzen, fluchtartig wegrannte.

Meine Jogging-Route führte vom Frankfurter Bahnhofsviertel, wo ich wohne, vorbei an der schönen griechischen Fassade des Säulenportikus vor dem Neuen Literaturhaus, in dem ich als Bibliothekarin arbeite, bis zum futuristischen Gebäude der Europäischen Zentralbank und zurück. Wenn ich nach gut einer Stunde auf dem Rückweg wieder ihre Bank passierte, grüßte sie mich oft wie eine alte Bekannte.

Normalerweise hätte ich sie nicht beachtet, ich hasste Ratten und ich hasste Alkohol, vor allem aber hasste ich diesen schalen Geruch aus Schweiß, miefiger, ungewaschener Kleidung und billigem Gesöff, den sie verströmte und den ich einatmete, obwohl ich jedes Mal einen großen Bogen um ihre Sitzbank machte.

Normalerweise. Aber da gab es noch ein ungewöhnliches Detail, das nicht in das Klischee von der obdachlosen, alkoholabhängigen Pennerin passte und das mich neugierig machte. Jedes Mal sah ich auf dem Rückweg, dass sie ihre Besitztümer aus der Aldi-Tüte neben sich auf der Bank gestapelt hatte – ein kleiner Berg gedruckter Literatur. Mit dem Blick eines Menschen, der sich mit Büchern auskennt, sah ich, dass es richtige, manchmal alte, mit Lederrücken gebundene Bücher, manchmal auch die bekannten gelben Reclam-Heftchen, Literatur-Ausgaben für Schüler und Studenten, aber niemals billige Comic-Drucke oder zerfledderte Zeitschriften waren. Sie las mit einer intensiven Aufmerksamkeit, nur wenn sie meinen Laufschritt hörte, schaute sie kurz auf und schwenkte zum Gruß das Buch in ihrer Hand.

Eine Stadtstreicherin liest und sammelt Bücher in einer gerade wieder mal mit dem Sterbeglöckchen bebimmelten Bücherwelt? Ja, Frankfurt, sagt man, sei eine Bücherstadt. Man sieht es ihr nicht an, höchstens zur Zeit der Buchmesse, wenn die Literatur im Mittelpunkt steht und überall Lesungen und Veranstaltungen für kluge Menschen rund um das Buch stattfinden, – aber eine Streunerin, die sich im wahrsten Sinne des Wortes mit schwerem Lesestoff belastet, ihn in der Aldi-Tüte mit sich trägt, das ist doch seltsam, dachte ich, während ich an ihrer Bank vorbeijoggte.

Sie beschäftigte mich. Manchmal, wenn ich half, irgendeine hochkarätige Lesung im Literaturhaus zu organisieren, dachte ich an sie. Wie würde sie, die ruppige und stinkende Buchfreundin zwischen all den elegant gekleideten und gescheit daherredenden Angehörigen des Frankfurter Großbürgertums wirken? Wer war sie? In welcher Absteige wohnte sie, oder lebte sie unter der Alten Brücke in einem Provisorium aus Plastikplanen und dreckiger Matratze?